Viele Bremsklötze für Behinderte
23.08.2013
- Am S-Bahn-Haltepunkt in Leutzsch herrscht ab 15. Dezember freie Bahn /.Foto: A. Kempner, J. Rometsch
Längst nicht alle Stationen von Leipzigs neuem S-Bahn-Netz sind wirklich problemlos erreichbar
Angeregt durch die Debatten um den jüngst eingeweihten Fußgängertunnel am Hauptbahnhof hat die LVZ jetzt alle neuen Haltepunkte des Leipziger S-Bahn-Netzes getestet. Das Ergebnis ist ernüchternd. An vielen Stellen gibt es erhebliche Behinderungen für mobilitätseingeschränkte Personen.
Zwar sind - mit Ausnahme von Anger-Crottendorf - alle neuen Stationen und Haltepunkte durch die Bahn barrierefrei errichtet worden. Die Probleme beginnen aber häufig bei der Anbindung zu umgebenden Bushaltestellen, Fußwegen oder Brücken. Dort ist die Stadt Leipzig zuständig. Im Verkehrs- und Tiefbauamt waren alle Bremsklötze für Behinderte bekannt, die die LVZ bei ihrem Test vorfand. Beispielsweise für den erschreckend schlechten Zustand eines Fußweges, der den Haltepunkt Connewitz anbinden soll, fehle aber vorläufig das Geld für die Instandsetzung, bedauerte Amtsleiterin Edeltraut Höfer. Wann Leipzigs Verkehrsbetriebe Fördermittel erhalten, um in Stötteritz eine Straßenbahnhaltestelle neben dem S-Bahn-Zugang zu errichten, sei ebenfalls unklar.
Die größte Unbekannte für Geh- oder Sehbehinderte dürfte freilich sein, wie stabil die vielen Fahrstühle ab Eröffnung des City-Tunnels am 15. Dezember funktionieren. Die vier unterirdischen Stationen im Herzen der Stadt haben keine Rampen. Im Hauptbahnhof wird es für die S-Bahn drei Fahrstühle geben, am Markt einen, am Leuschnerplatz sowie Bayerischen Bahnhof jeweils zwei.
Von den neun oberirdischen Haltepunkten, die alle noch geschlossen sind, bieten nur drei (Leipzig-Nord, Lindenau, MDR) eine Erreichbarkeit beider Bahnsteige über Rampen. Auch in Markkleeberg sind von drei neuen Haltepunkten zwei mit Fahrstuhl bestückt. Am dritten in Großstädteln soll dieser nachgerüstet werden, falls irgendwann mehr als 1000 Reisende täglich ein- oder aussteigen.
Das Problem bei der Liftlösung: Etwa am Haltepunkt "Leipzig Messe" in Wiederitzsch war der Fahrstuhl bereits mehrfach wochenlang kaputt. Oft wegen Vandalismus. Die letzte dortige Störung löste der Starkregen am 20. Juni aus. Sie ist noch nicht behoben, weil es Lieferschwierigkeiten bei Ersatzteilen gibt, räumte Bahn-Sprecherin Änne Kliem ein. Normal dauere eine Reparatur einen Tag. Um mobilitätseingeschränkte Reisende zu unterstützen, halte die Bahn aber viele Angebote vor. So gebe es Notrufnummern fürs Handy, Notrufsäulen auf Bahnsteigen. Vor allem helfe die Mobilitätsservice-Zentrale bei der Reiseplanung für Behinderte. Sie wisse zumindest, welche Haltepunkte barrierefrei errichtet worden sind.
Leutzsch: Am eindrucksvollsten ist der Halt an der kleinen Georg-Schwarz-Brücke. Zwei mächtige Fahrstuhltürme plus Stege und Treppen wirken wie ein Schiffshebewerk. Weil abgesenkte Bordsteine fehlen, können Rolli-Fahrer auf der Brücke nicht zur LVB-Haltestelle auf der anderen Straßenseite wechseln. Erst an der Kreuzung Hupfeldstraße gibt es einen Überweg.
Lindenau: Am Zugang Lützner Straße ziehen zwei kunstvoll verschlungene Rampen die Blicke an. Durch zahllose Lampen wird das ungewöhnliche Bild nachts noch verstärkt. Die Rampen sind sehr steil, eine Kraftprobe für muskelbetriebene Rollstühle. Am Zugang Demmeringstraße lassen Treppen im Fußgängertunnel und vor dem Bahnsteig Gehbehinderten keine Chance.
Plagwitz: Wie ein notgelandetes Raumschiff prangen die Lärmschutzwände des S-Bahn-Halts nun zwischen altem Bahnhof, Kirche und Baumwollspinnerei. Die Spinnerei-Seite bedient ein Fahrstuhl, die andere eine Rampe. Sie endet genau an der Straßenbahn-Wendeschleife: "Betreten verboten!" Jedoch bleibe zwischen Schleife und Rampe ein schmaler Weg, sagt die Stadt.
Hauptbahnhof: Neun Stufen wurden gerade zum Politikum für viele Leipziger. Sie trennen das Untergeschoss des Einkaufszentrums Promenaden vom neuen Fußgängertunnel in die City. Rollstuhlfahrer kommen dort nicht weiter. Auf anderen Wegen seien aber alle Bahnhofsteile barrierefrei erreichbar, versicherte die Stadt. Nun will sie noch mal mit Promenadenbetreiber ECE reden.
Leipzig Nord: Die Bahn beschreibt diesen völlig neuen Haltepunkt mit "an der Berliner Straße". Deshalb wissen die meisten Leipziger bis heute nicht, wo er liegt. Dabei ist er schon seit 2010 fertig. Also: Er befindet sich hinter der Berliner Brücke am Ende der Theresienstraße. Für Rollstuhlfahrer ist der Mittelbahnsteig durch eine sehr lange, aber nicht zu steile Rampe gut erreichbar.
Anger-Crottendorf: Kein bisschen barrierefrei wird die neue Interimshaltestelle an der Zweinaundorfer Straße. 2012 versprach die Bahn noch, bis zur Tunnel-Eröffnung werde es dort einen richtigen Haltepunkt geben. Aus "Finanzierungsgründen" soll er nun erst ab 2017 entstehen - gleichzeitig mit dem Neubau der benachbarten Eisenbahnbrücke. Dann aber barrierefrei.
Stötteritz: Wehe, wenn hier mal der einzige Lift streikt. Die steile Fußgängertreppe ist schon für leicht Gehbehinderte oder Leute mit Kinderwagen keine gefahrlose Alternative. Unten gelangen Rollstuhlfahrer oder Senioren nur schwer über die breite, verkehrsreiche Papiermühlstraße. Das ändert sich frühestens 2016: Dann ist dort der Bau einer Straßenbahnhaltestelle geplant.
Völkerschlachtdenkmal: Durch Verlegung des S-Bahn-Haltepunkts an die Prager Straße gibt es kurze Umsteigewege zu Bus und Straßenbahn. Eine Rampe fehlt. Die Verbindung vom Mittelbahnsteig zur Außenwelt erfolgt über eine Treppe auf der Westseite der Prager Brücke und einen Fahrstuhl auf der Brücken-Ostseite. Das irritiert zunächst, dürfte in der Praxis aber funktionieren.
Connewitz: Weshalb wurde der S-Bahn-Halt nicht gleich an die neue Bornaische Brücke gelegt? So gelangen Rolli-Fahrer nur umständlich über die Ladestraße zum Außenbahnsteig, dann über eine Extra-Brücke mit zwei Liften zum Mittelbahnsteig. Der Zugang von der Karl-Jungbluth-Straße ist theoretisch leichter, scheitert jedoch am ruinierten Fußweg an der Gartensparte Frohsinn.
MDR: Mal abgesehen davon, dass an dem neuen S-Bahn-Halt keine direkte Verbindung zum MDR-Areal existiert, ist in Sachen Barrierefreiheit sonst alles vorbildlich. Zwei Rampen führen von der Semmelweisbrücke zu den Gleisen. In die Station wurden vorsorglich Radwege implantiert. Auf der Brücke gibt es einen Fußgängerüberweg mit Ampel sowie Bushaltestellen der Linie 74.
Text von Jens Rometsch
Leipziger Volkszeitung, vom 23.08.2013