Es ist wieder Leben in der Bude: Streifzug durch das Wächterhaus Merseburger Straße 17
13.08.2012
- Ansicht des Wächterhauses in der Merseburger Straße 17 / Foto: Andreas Döring
In verschiedenen Vierteln von Leipzig vermieten Hauseigentümer sehr günstig an Intellektuelle und Künstler. Diese "bewachen" alte Gründerhäuser und retten sie damit vor dem Verfall. Von der Belebung profitieren auch die Viertel selbst. Ein Streifzug durch eines der Wächterhauser.
Die Karl-Heine-Straße in Plagwitz gilt schon seit Längerem als das alternative Pendant zur Karli. Immer mehr Studenten und Künstler kommen in das einst proletarische Viertel. Die Straßen sind gesäumt von kleinen Kneipen und Galerien, fernab der großstädtischen Hektik. Man atmet Kunst und Kultur. Hier zu wohnen, ist einfach Szene.
Eine Querstraße weiter prangt ein gelber Banner an einem alten Haus aus der Gründerzeit: das Wächterhaus in der Merseburger Straße Nummer 17. Es wirkt etwas unpassend zwischen sanierten und strahlend weißen Stadthäusern. Doch Fassade und Fenster sehen weder heruntergekommen, noch verfallen aus. Lediglich die Farbe der grünen Eingangstür ist bereits abgeblättert und über die Jahre der Nichtnutzung auch schon mehrfach beschmiert worden. Im Untergeschoss befinden sich zwei Künstlerläden, der Rest des Hauses ist bewohnt.
Die Tür gewährt Eintritt in eine andere Zeit: Ins Treppenhaus kommt kaum Licht, die Fenster sind bunt verglast, alles wirkt sehr dunkel, das braune Holz fast übermächtig. Im Inneren scheint das Haus verfallener als von außen. Die Treppenstufen knarzen, der muffig, modrige Geruch der Jahrhunderte hüllt einen ein. Doch das bedrückende Gefühl legt sich schnell. Die bewohnten Etagen versprühen neuen Geist, das Haus wirkt belebt. Alle Wohnungstüren stehen offen, niemand soll sich ungebeten vorkommen. Neun Mieter wohnen auf zwei Etagen. Sie leben in WGs.
Einer von ihnen ist Tino Grasselt, er wohnt seit 2007 hier. Seine Vierer-WG erstreckt sich über zwei Etagen. In den Wohnungen fällt es überhaupt nicht mehr auf, dass sie sich eigentlich in einem Wächterhaus befinden. Die Möbel sind alt, zusammengestückelt, aber jedes auf seine Art besonders. In der Küche finden alle zusammen. Hier wird erzählt, diskutiert, gelebt. Die Küche versprüht eine heimelige Atmosphäre, man fühlt sich auf Anhieb wohl, auch wenn alles ein wenig verkramt wirkt.
Tino passt in das Ensemble, locker, lebensfroh mit seinem verschmitzten Lächeln. Der gebürtige Chemnitzer kam 2000 wegen des Studiums nach Leipzig. Tino studierte im Magister Kulturwissenschaft mit den Nebenfächer Musik- und Kommunikationswissenschaft, heute arbeitet er als Pressereferent in einer Konzertagentur. Anfangs wohnte er mit Freunden in Schleußig, dann war er aber auf der Suche nach etwas Individuellerem. Er traf auf eine Gruppe junger Leute, die nach einem Haus suchten, in dem sie ganz nach ihren Wünschen und vor allem billig leben konnten. Sie fanden dieses in der Merseburger Straße 17 und verliebten sich sofort, Tino schwärmt noch heute "in anderen WGs habe ich manchmal das Gefühl von Platzangst, hier ist alles so schön groß und weitläufig, vor allem der Garten."
Doch anfangs war der Hauseigentümer etwas skeptisch, fremden Leuten sein Haus zu überlassen. Glücklicherweise konnte er durch den Verein "Haushalten" überzeugt werden. Dieser setzt sich seit 2004 für den Erhalt alter Gründerhäuser in Leipzig ein. Momentan sind mehr als 2000 von ihnen vom Verfall bedroht. "Wir reagieren damit auf die große Nachfrage an historischen und billigen Räumlichkeiten und schützen gleichzeitig geschichtsträchtige Bauten vor Leerstand und Vandalismus", so Fritjof Mothes, ein Gründungsmitglied des Vereins. Mittlerweile gibt es 16 Wächterhäuser in ganz Leipzig, die auf ganz verschiedene Weise genutzt werden. Der jeweilige Hauseigentümer geht mit dem Verein "Haushalten" einen fünf- bis siebenjährigen Vertrag ein. Dieser übergibt den "Wächtern" das Haus kostenfrei, sie müssen lediglich für die monatlichen Nebenkosten aufkommen. Die Bewohner sanieren das Haus dann nach ihren Wünschen und Ansprüchen, dabei können sie auf die Hilfe des Vereins zurückgreifen. Dieser verfügt über einen Werkzeugpool zur kostenlosen Ausleihe sowie über handwerkliches Fachpersonal zur Beratung.
Auch Tino und seine Mitbewohner mussten zu allererst Elektrik und Sanitär erneuern. Sie achten aber darauf, dass möglichst originalgetreue Materialien verwendet werden, wie beispielsweise das Treppengeländer, es stammt aus den abgerissenen Gründerhäusern, die zugunsten des Supermarkts in Lindenau weichen mussten. Nicht nur der Spaß am Handwerkeln, war für Tino ausschlaggebend. Er entschied sich für diese Art des Wohnens, weil man hier miteinander lebe und nicht aneinander vorbei. "Außerdem atmet man hier Geschichte und in mir lebt eine generelle Affinität für alte Gründerhäuser", sprudelt es begeistert aus ihm heraus. "Ich mache das einfach für mich", manifestiert er. Das Leben in einem Wächterhaus sei für ihn weit weg von der politisch motivierten Hausbesetzung, die viele fälschlicherweise damit in Verbindung bringen.
Der Gemeinschaftsgedanke wird in der Merseburger Straße 17 groß geschrieben, hier fanden sich Menschen, die unangepasst und individuell zusammenwohnen wollen. Tino Grasselt bewundert das Unkonventionelle und Eigene: "Hier kommt man rein und sieht nicht überall dieselben Ikea-Möbel." Gemeinsames Kochen, Grillen und Gärtnern sind keine Pflicht, werden aber von allen Hausbewohnern gerne wahrgenommen. Sie vereint das Interesse am Gegenüber. Dennoch sei das Zusammenleben in einem Wächterhaus schon so eine Art soziales Experiment, meint Mothes.
Neuerdings versucht sich auch Sebastian Brauer in diesem. Er wohnt erst seit Mitte April in der Vierer-WG von Tino. Obwohl es jahrelang einen Ansturm auf eventuell frei werdende Zimmer gab, musste die WG diesmal konventionell per Anzeige nach einem neuen Mitbewohner suchen. Auch hier wurde gecastet. Sebastian hat sich als der "geeigneteste Kandidat" herausgestellt. Um nicht alle Bewerber abzuschrecken, haben Tino & Co den kleinen Zusatz Wächterhaus in der Anzeige unter den Tisch fallen lassen. Doch Sebastian war beim Antrittsbesuch überhaupt nicht geschockt: "Ich habe mich unheimlich gefreut, nach so etwas Besonderem habe ich schon lange gesucht." Dies bestätigt das Anliegen von Stadt und "Haushalten", vielfältigen Lebensweisen Raum bieten zu wollen.
Doch alle Beteiligten wissen, das Modell Wächterhaus ist eher als Zwischenlösung gedacht, angestrebt wird die Sanierung des Gebäudes. Karsten Gerkens, Amtsleiter für Stadterneuerung und Wohnungsbauförderung, empfindet es dennoch als die beste Alternative, um alte Gründerhäuser vorm Verfall zu retten. "Sie waren in der Phase des Stillstands der Rostlöser." Immerhin sei Leipzig die "Gründerzeithauptstadt in Europa", so Gerkens. Das müsse man bewahren, denn viele Leipziger seien sich dessen nicht bewusst. Auch in der Merseburger Straße 17 wird heftig diskutiert. Im Oktober nächsten Jahres läuft der Vertrag aus, sieben Jahre sind dann rum. Die Bewohner müssen sich auf ein Konzept für die Phase danach einigen. "Momentan schwanken wir zwischen einem genossenschaftlichen Aufkauf des Hauses oder einem weiterlaufenden Vertrag mit dem Hausbesitzer", konstatiert Grasselt. Das Konzept des Wächterhauses sieht nach Auslauf des Vertrages vielfältige Alternativen vor. Offiziell gilt es dann als "entlassen".
Seit 2005 sind vier Wächterhäuser in diesem Zustand. Der Trend gehe, laut Gerkens, zum genossenschaftlichen Aufkauf. Immer mehr Intellektuelle und Künstler schließen sich als Gruppen zusammen und suchen gemeinsam nach Wohnraum, den sie individuell nutzen können. Mothes spricht von über 1000 wartenden Interessenten, der Andrang sei enorm. Der Verein "Haushalten" habe mit dem Modell "Ausbau-Haus" eine nachhaltige Alternative für die Zukunft geschaffen. Hierbei bestehen normale Mietverträge zwischen Bewohner und Hausbesitzer, die allerdings unbefristet sind und zu sehr günstigen Konditionen vergeben werden. Dafür baut der Mieter seine Wohneinheit eigenständig aus. Gerade wenn Hauseigentümern die finanziellen Mittel zum Ausbau oder zur Sanierung fehlen, kann hier pragmatisch und effizient agiert werden. Dennoch bleiben Wächterhäuser ungemein wichtig für die Belebung von Stadtteilen mit geringer Nachfrage wie Lindenau, Leutzsch oder Volkmarsdorf Nord. Diese müssen wieder attraktiv werden, das kann durch individuelle und bezahlbare Wohnangebote geschafft werden.
Plagwitz scheint dagegen belebt genug. Die Straßen sind voll: Studenten, Künstler, Intellektuelle und Arbeiter leben nebeneinander und manchmal auch miteinander. "Die Mischung macht's", so Grasselt, "ich lebe nicht gerne in Vierteln, in denen ich nur der gleichen Sorte Mensch über den Weg laufe." Hier pulsiert das Leben, die Kultur, die Szene. In ein paar Jahren kann das auch in Lindenau so sein. Auch Plagwitz war nicht immer so beliebt und belebt wie heute.
Text von Friederike Schicht
Leipziger Volkszeitung, vom 11.08.2012